„Sommer 2019
Ich treffe J.
exakt 13000 Meter vor dem Ende unserer Reise, und ich habe keine
Ahnung, wer er ist, woher er kommt und was ihn bewegt. Als ich mich
über jedes Maß erschöpft in den Campingsessel neben ihm fallen
lasse, weiß ich noch nicht einmal, dass er J. heißt. Aber was ich
weiß, ist das: auf diesem Weg ist er wie mein Bruder.
Wir können uns
beide nicht vorstellen, wie wir uns noch einmal aufraffen und die
Hänge zu unserer Linken erklimmen sollen, die uns vorkommen wie ein
gewaltiges Massiv. Allein der Gedanke ans Aufstehen tut schon weh, in
den wundgelaufenen Füßen, den gleißend schmerzenden Knien, und
mein Kreislauf ist sich auch noch nicht sicher, ob er es mit den
restlichen Kilometern aufnehmen will, nein: kann. Zucker fehlt ihm
nicht, Wasser nicht, Kohlenhydrate auch nicht. Mir wird schlecht,
wenn ich versuche zu essen.
Vor anderthalb
Kilometern hatte ich mich zwischen Pferdeweiden und Feldweg auf eine
einsame Bank setzen müssen und ans Aufgeben gedacht, so kurz vorm
Ziel, und ich fühlte mich nicht mehr nur körperlich elend. Über 80
km war ich gelaufen in den Stunden zuvor, hatte mich überraschend
schnell über den Spessart gekämpft und war mit ordentlichem Tempo
durch die Städtchen um Hanau gelaufen, durch Hitze und
Mückenschwärme und Müdigkeit, hatte Station für Station
abgelaufen und die gesehen, die aufgegeben hatten, und nun - nun,
dachte ich, würde mein Körper mir und meinem großen Ziel das Licht
ausknipsen. Dort auf der Bank versuchte ich es dann mit Limonade.
Nichts zu machen. Nussbrot. Zum Kotzen. Dann waren mir die zwei
hartgekochten Eier eingefallen, die ich in der blauen Box bei mir
hatte, tief unten im Rucksack, und kramte sie heraus. Eiweiß, meine
letzte Chance? Nein, stellte ich ernüchtert fest, das Ei machte mich
überhaupt nicht an…
Es war das Salz.
Eine Prise Salz, mit schwarzem Pfeffer gemischt, ich hatte beides
lose in die Dose gestreut, und ich stippte sie mit dem Finger auf und
lutschte sie begierig ab. Salzig und voller Schärfe: das lehnte mein
Körper nicht ab. Mit der feurigen Mischung im Mund taumelte ich
weiter, der Station entgegen, und fürchtete mich davor aufgeben zu
müssen.
Dort sitzen J.
und ich dann 20 Minuten später matt bis zum Umkippen nebeneinander
und lassen unsere Blicke irgendwo in die Leere schweifen. Wir denken
den gleichen Gedanken und fechten gegen die gleiche Müdigkeit, den
gleichen inneren Schweinehund, und wir sind uns einig in der
verzweifelten Frage: wie zur Hölle soll ich das schaffen? Es sind
dann Salzstangen, die mein Vorhaben retten. Die wunderbaren Helfer an
der Station bieten mir ein ganzes Päckchen an, aber ich nehme nur
eine kleine Handvoll und lutsche sie mehr, als dass ich sie esse.
"Mehr Salz", scheint mein Körper zu rufen, und allmählich
kommt mit dem Salz meine Hoffnung wieder; vielleicht werde ich das
Ziel doch erreichen. Neben mir trinkt mein Leidensgefährte in
gierigen Zügen sein Wasser leer, und auch für ihn scheint sich ein
Tor geöffnet zu haben, durch das hindurch ihn die Verlockung des
Ziels anlächelt. Was an Kraft und Motivation übrig ist, kehrt
zurück, auch wenn wir beide kaum noch aus den Campingstühlen
kommen. Wie altersmüde Tanzbären stehen wir da und vermessen
argwöhnisch die hügeligen Felder. Eine Ewigkeit von viereinhalb
Kilometern liegt vor uns, 4500 Meter, das bedeutet rund 9000
schmerzhafte Schritte auf unerbittlichem, strengem Asphalt. Und wer
das Ziel erreichen will, die 100 Kilometer vollmachen, der wird bis
in die Nacht wandern müssen… Wir geben uns die Hand; bis zur
nächsten Station würden wir als Brüder gehen, und wir würden all
unsere Schmerzen und Hoffnungen miteinander teilen.“
Der Lauf
Der Lauf der
Verrückten ist eine Veranstaltung der Heliand-Pfadfinderschaft im
EJW Hessen und ein Spendenlauf für das PROCEDI-Projekt, das
Straßenkindern in Guatemala hilft. Es geht bei ihm nicht um den
Sport: keine Siegerehrung, keine Preisverleihung, kein Podest, und
eine Medaille bekommt auch niemand; vielmehr ist jede(r)
Gewinner(in), der oder die sich mit seinen oder ihren persönlichen
körperlichen und geistigen Grenzen auseinandersetzt und das
Möglichste tut, diese Grenzen zu erreichen, oder besser noch: zu
überschreiten. Ob jemand nach 30 km einknickt oder nach 67 oder 88,
oder ob man die 100 schafft: alle sind nur und ausschließlich gegen
sich selbst angetreten und haben sich selbst etwas bewiesen - im
besten Fall, dass sie binnen 24 Stunden eine Wegstrecke von 100000
Metern zu Fuß zurücklegen können.
2021
Ich weiß noch
nicht, wer diese Mammutaufgabe gegen sich selbst am vergangenen
Wochenende geschafft hat – ich jedenfalls nicht. Was bei meiner
ersten Teilnahme noch so gut klappte, schlug diesmal fehl: 54
Kilometer, dann war Schluss für mich. Mit pochendem Schädel und
einer immer deutlicher werdenden Vorahnung von Migräne ließ ich
mich vom Shuttlebusfahrer ins Quartier zurückbringen, klaubte meine
sieben Sachen zusammen und kehrte Frankfurt den Rücken.
Trotzdem fühle
ich mich auch in diesem Jahr wie ein Sieger, und ich bin so dankbar
und glücklich über den Lauf, über jede dieser fiesen Meilen auf
Asphalt, dass ich ganz traurig werde beim Gedanken daran, dass es nun
tatsächlich schon wieder vorbei ist. Denn wieder einmal waren der
Lauf, seine Ausrichtung, die TeilnehmerInnen und VeranstalterInnen,
wieder einmal sind Erfahrungen und Erinnerungen, all das, was ich aus
diesem Wochenende mitnehme, einfach nur eines: nämlich wunderbar.
Es war wie schon
beim letzten Mal, als ich ankam: da hat man das Gefühl, Freunde zu
treffen, von denen man noch nichts wusste. Kein Wettkampf, keine
Abgehobenheit, kein Vergleichen, kein Dünkel und keine Unsicherheit
– alle sind da, um miteinander zu laufen und zu leiden. Ein
sensationelles Pfadfinderteam, das, so merkt man rasch, genauso
fieberhaft und vorfreudetrunken auf das Erlebnis wartet wie man
selbst, ohne jeden Funken Abgebrühtheit oder Langeweile, auch wenn
es schon das x-te Mal ist, dass sie den Lauf veranstalten. Gewiss:
Routine haben sie bei allem, was sie dort tun, und man muss sich
keine Sorgen machen, dass Details ungeklärt sind oder Fragen offen
bleiben.
Es fühlt sich
gut an, so eine erfahrene Mannschaft hinter sich zu wissen, wenn die
Reise losgeht. Denn die geht in diesem Jahr – Corona geschuldet –
ganz untypisch erst einmal auf Radwegen durch die Nacht, zehn Stunden
sind es, bis die Sonne aufgehen wird, und ich spüre den ganzen
Arbeitstag vorher auch noch auf meinen Schultern drücken. 10
schlaflose, eiskalte, nasse Stunden über den Asphalt am Main entlang
nach Süden, von Frankfurt bis Stockstadt, und dann zurück bis Kahl,
ehe der Weg im Licht eines neuen Tages die Ausläufer des Spessart
überquert und sich durch die Städtchen um Hanau wieder an seinen
Ursprung zurückschlängelt. Die Stationen, an denen meine
Verpflegung auf mich wartet, fliegen zunächst nur so an mir vorbei
und ich benötige (noch) nicht viel Proviant; allmählich aber
weichen Euphorie und Zuversicht Müdigkeit und brennenden Beinen. Ich
wusste nicht, dass der Rücken vom Laufen so wehtun kann. Was ich
aber weiß, als ich den Main nach knapp 9 Stunden und 42 Kilometern
überquere: ich werde so schnell keinen Radweg mehr entlangwandern…
Zum Glück bin
ich nicht allein. Ich laufe mit D., die ich 2019 beim Lauf
kennengelernt hatte, als ich noch mit Wanderrucksack und 8 kg Gepäck
unterwegs war und sie mit minimalistischer Ausrüstung (eine Jacke,
eine Flasche, was zu knabbern) über knapp 20 Kilometer begleitete.
Damals war ich wesentlich trainierter, bin irgendwann weitergelaufen,
als ihre Füße eine Pause brauchten, und war dann wahnsinnig
erleichtert und froh, als ich am nächsten Morgen hörte: sie hatte
es auch geschafft, nach 26 Stunden Kampf. Heute haben wir uns schnell
und ohne Worte geeinigt: wir rocken das zusammen, so lange bis eine/r
aufgibt, umfällt oder nicht mehr kann… Die ersten sechs Stunden
vergehen wie im Flug, wir kennen einander ja eigentlich überhaupt
nicht und doch reden wir stundenlang über unsere Tiefen, und es
lässt uns die lange erste Nachthälfte überstehen - fühlt es sich
im Kontrast zu der uns überragenden schweren Dunkelheit doch so
seltsam leicht und licht an. Irgendwann aber verstummen wir, zwingen
uns im immer gleichen Takt weiterzugehen, hoffen auf den Morgen und
darauf, dass die Sonne uns neue Kraft gibt.
Als sie dann
endlich aufgeht und die Nebel um uns herum unwirklich zu leuchten
beginnen, erlebe ich wider Erwarten die erniedrigendste Phase meiner
Wanderung. Mein Kopf wummert wie ein Dieselmotor, mein Bauch brennt,
ab und an vergesse ich die Welt um mich herum und fühle mich wie ein
Schiffbrüchiger im statischen Rauschen eines Uraltfernsehers. Ich
begreife: ich kann nicht mehr. Teils geht D. alleine weiter, dann
mobilisiere ich noch einmal meine Kräfte, um sie vor Station 5 –
meinem persönlichen Exit – noch einmal einzuholen, und ich freue
mich, dass es mir gelingt. Völlig unprätentiös, aber trotzdem
voller Vertrauen, dann unser Abschied: „Dann also… bis nächstes
Jahr!“. Das Versprechen muss reichen. Und bei allem, was mir heilig
ist, ich freue mich darauf.
100
Nächstes Jahr.
2022, wenn Tante Corona hoffentlich besiegt ist; wenn der Weg wieder
in Gemünden beginnt und durch einen magisch anmutenden Wald führt,
der mich mit Sonnenaufgang verwöhnt; wenn ich vorher schlafen darf
(was für ein feiner Gedanke); wenn ich meinen Körper auf die
Strapazen des Weges vorbereitet habe: dann werde ich wieder die 100
knacken. Das ist mein Versprechen an mich, und ich kann es nicht mehr
brechen.
Ich habe sie
einmal geschafft, und sie haben Großartiges mit mir gemacht. Ich
habe erkannt, zu was ich imstande bin, habe mir selbst meine ganze
Stärke bewiesen und mir gezeigt, dass ich durch die Kraft meiner
Entscheidung – Ich schaffe das, weil ich es entschieden habe.
Ich lasse nicht zu, dass ich es zum Versuch degradiere. Ich schaffe
das. – Dinge tun kann, die ich vorher für unmöglich gehalten
hatte. Ich habe diese Erfahrung verinnerlicht und sie zu meinem
Werkzeug gemacht. Ich entscheide, was ich beginne, was ich tue, was
ich wann beende.
Die Erfahrung aus
dem Lauf der Verrückten hat mich meine Verbeamtung aufgeben lassen,
wider jede Vernunft des Geldes und der Sicherheit. Sie hat mich dazu
gebracht, meinen eigenen Weg weiterzugehen und dabei nicht mehr auf
Vorsicht und falsch verstandene Etikette zu hören. Ich habe eine
neue und viel bessere Arbeit gefunden, mir einen Haufen Kindheitsträume erfüllt, meine Ernährung umgestellt und
20 Kilo abgenommen, habe angefangen Lieder zu schreiben und dabei in
mir noch viele Abzweigungen mehr gefunden, die ich eines Tages
ausprobieren werde; nichts davon wäre so ohne diesen Lauf geschehen.
Mitmachen
Die Floskel „Dabeisein ist alles“ wurde schon so oft
ausgeschlachtet, dass ich sie eigentlich gar nicht gern verwenden
mag. Trotzdem: hier stimmt sie. Probier dich aus, mute dir was zu,
quäl dich und erlebe einen Tag und eine Nacht jenseits aller
Komfortzonen. Am Ende warten nicht nur wunde Füße und Blasen,
sondern auch eine Garantie: der Mensch, den du nach deinem Lauf
der Verrückten im Spiegel siehst, ist gewachsen, und er hat Dinge
über sich erfahren, die dich mit Stolz erfüllen werden. Komm mit.
2022. Es wird herrlich!
Schau mal hier: Website des LdV